Der Geliebte der Mutter von Urs Widmer

Der Geliebte der Mutter von Urs Widmer

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Eine Freundin vererbte mir ein paar gelesene Bücher, und so hatte ich endlich das Vergnügen, "Der Geliebte der Mutter" von Urs Widmer zu lesen, ein kleines, sehr feines Buch. Klein sagt man von Büchern, die nicht als dicke Romane daherkommen, es hat 130 Seiten, klein sagt man aber auch, wenn man es liebevoll meint, und klein beginnt man eine Beschreibung, wenn in dem kleinen Buch dann doch ein ganz großes steckt. So wie hier. Bezwingend ist zunächst der Ton von Widmer, ein wenig märchenhaft, lakonisch, verdichtet, und mit einem Tempo, das mich an die Erzählerstimme in Truffauts Film "Jules und Jim" erinnert, intim, distanziert, poetisch, treibend.

Erzählt wird die Geschichte einer großen, und daher natürlich (so ist das in der Literatur) unerfüllten Liebe einer jungen Frau zu einem Musiker, der später im Leben ein berühmter Dirigent wird, woran sie in den Anfängen durchaus ihren Beitrag geleistet hat. Denn sie organisierte die Konzerte mit dem "Jungen Orchester", das er, Edwin, leitete, um zeitgenössische Musik zu Gehör zu bringen, in den Zwanziger Jahren, von Korngold, Schönberg, Zemlinsky, und vor allem vom noch gar nicht so bekannten Béla Bartók. Sie, die der Erzählerin immer wieder "die Mutter" nennt, riss Eintrittskarten ab, sie führte die Buchhaltung und sie - konnte ihn, Edwin, niemals vergessen. Eine eigenwillige Person als Kind schon - sie hatte so "ihre Art" (der Vater überstreng, sie mit geballten Händen, sich herausnehmend in ihre Phantasie), folgt sie Edwin wie das Käthchen von Heilbronn dem Prinzen, unbeirrbar, liebend, auch dann noch, als er sich eine andre angelt, mit ein wenig Abstand. Auch noch, als sie längst selbst verheiratet ist, ein Kind hat, den Erzähler also, auch dann noch, als sie wegen Edwin am anderen Ufer des Sees beinahe in denselben steigt. Sie wird verrückt, sie übersteht es, sie lernt ihre italienische Familie kennen, einen Haufen Brüder und Onkel, "sie taten dies, taten das, taten nichts" - , der Faschismus überzieht Europa, Hitler führt es in den Krieg, sie legt Beete an und zieht Gemüse. 

Wie Widmer ihre seelische Verstörung beschreibt, ist unglaublich zart und schön und traurig. "Die Wirbel, die sich in ihr drehten, drohten dann, sie mit sich zu reißen mit Haut und Haar.  Als ob sie in sich selber weggurgeln könnte, sich in sich selber hineinstülpen und verschwinden, endgültig, von einem Todesstrudel in ihr Inneres gesogen. - Ein Schrecken. Eine Angst. Panik. - An solchen Tagen war sie doppelt genau. Sagte jedem Muskel vor, was er zu tun habe. Tat jede Handlung bedacht. Die Gabel jetzt! Das Messer nun!"

Noch herzzerreissender ist es, wie sparsam Widmer das Kind erscheinen lässt, ganz am Rande nur, es ist der Erzähler, und der Erzähler ist diskret. Niemals weinte sie, die Mutter. "Ihr Kind floh vor ihr, ich, und reckte ihr dennoch die Ärmchen entgegen." Sie rettet sich, das Kind nur am Rand, sie lebt ihr Leben, wird alt und verreist. 

Urs Widmer, geboren 1938, erzählt auch von der Musik, denn Edwin, der Dirigent, macht Bartók groß; er setzt sich für den Komponisten, aber auch andere Zeitgenossen ein, so zielstrebig, wie er im Krieg mit der Maschinenfabrik seiner "Gattin" riesige Gewinne macht. Doch zunächst, wie aufregend diese Zeiten, etwas ganz Neues mühsam durchzukämpfen, wie viel versoffene Nächte und Freuden. Wie viel Strenge und Disziplin, um das den Leuten nahezubringen, was diese jungen Musiker für wichtig halten und für richtig.

Das kleine Buch also ist ein großes, überraschend, drollig manchmal und sprachlich ein Fest, ob "großflammige" Tapeten in Paris beschrieben werden, eine vorüberziehende Landschaft im Zug, das Leben in Konzertsälen oder die Verwirrung einer facettenreichen Person, dieser liebenswürdigen, ach so eigen lebenden Mutter, die da hatte "ihre Art".

Lesen!

Erschienen bei Diogenes, 2000.