Geruch
Veröffentlicht:Die bildende Künstlerin Ina Abuschenko-Matwejewa bat mich, zu einer Installation, in der sie den Koffer ihres Großvaters ausstellte, einen Text zum Thema Geruch zu schreiben. Er berührt - wie sollte es anders sein - die Erinnerung.
Geruch
Gewächs, Gedicht, Geruch, es sind diese besonderen Wörter, in denen etwas verdichtet, zusammengeschoben oder geschichtet wird. Es steckt darin auch eine Vergangenheitsform: etwas wurde geschrieben, geschoben, gedichtet, und eben gerochen.
Die meisten, die man nach einem Geruch fragt, sprechen dann naturgemäß über etwas, das sie gerochen haben, seltener über etwas, das sie gerade eben, in diesem Augenblick riechen. Sehr oft - und dieser Schritt ist naheliegend, wegen der Vergangenheit, wird der Geruch - wie bei Proust der Geschmack der Madeleine - mit einer Erinnerung verbunden.
Geruch und Erinnerung: darüber ließe sich ein langer Essay schreiben, und wir hätten noch nicht einmal den Aspekt berührt, dass wir jemanden gut riechen können.
Bei einem Spaziergang im Winter im Oderbruch, weiß verschneite Felder, auffliegende Vögel, weiter Himmel, weht mir plötzlich der Geruch eines Kohlofens in die Nase. Wie beschreibe ich diesen Geruch? Ein Geruch, der früher im Winter über ganz Berlin hing? Den manche Leute hassten, den ich aber immer liebte? Etwas Verbranntes, Verkohltes, ein bisschen stechend, ein bisschen säuerlich sogar, dabei anheimelnd wie ein Lagerfeuer, wie wie … welche Wörter benutzt man für Gerüche? Man muss sich darauf verlassen, dass auch andere wissen, wie ein Feuer riecht, wie ein Kohleofen, der rußt oder qualmt, wie die Stadt im Winter, wenn der Schnee taut und matscht, wie …
Als ich nach Berlin kam, in den Achtzigern, gab es noch viele Kohleöfen, manche heizten sogar mit Braunkohle, das roch irgenwie oller, fieser, muffiger, reizte die Atemwege. Der andere, der bessere, der schöne Kohleofengeruch in den Straßen im Winter erinnerte mich auch an etwas, etwas in meiner Kindheit, wenn wir im Winter meine Großeltern in Buckow besuchten, wo sie eine Gartenwirtschaft hatten, mitten im Wald. Der Geruch des Kohleofens draußen vor dem Haus, und drinnen, wo der Ofen auch noch mit Holz und Kohle befeuert wurde, hat mich immer glücklich gemacht.
Der Moment im Oderbruch, als der Kohleofengeruch so unvermittelt übers nackte Feld geweht kam, brachte ein verwirrendes Durcheinander an Einfällen, denn ich dachte wegen des Riechens an meinen Großvater mütterlicherseits, der immer mit einem großen Herrentaschentuch hantierte, um sich seine ebenso große, knubbelig weiche oberschlesische Nase abzuwischen oder mit dem Taschentuch eine wilde Bewegung vor der Nase zu machen und dabei etwas von sich zu geben, was weder Schniefen noch Abtupfen war, sondern eher dem drolligen Schnaufen eines Pferdes nahekam, das dieses Geräusch halb mit den Nüstern, halb mit den Lippen macht, ein sanftes Brrr. Wenn mein Opa niesen musste, sprang er in die Höhe, und das Wieder-auf-dem-Boden-Aufkommen und das Niesen selber traten zusammen auf wie ein Donnern.
Mein Opa, so erzählte mir meine Mutter erst im vergangenen Jahr, hatte seinen Geruchssinn verloren. Das kann nicht sein!, rief ich. Das hätte ich doch gewusst! Wie hätte ich das nicht mitbekommen sollen? Ich habe so oft mit ihm gegessen, Tee getrunken, hatte er nicht oft gesagt, das riecht aber gut? Der Kaffee? Die Suppe? Der rohe Schinken. Ausgeschlossen! Doch, doch, insistierte sie, im Ersten Weltkrieg, wegen des Giftgas, in Ypern. Ypern?!, entfuhr es mir, das höre ich ja zum allerersten Mal. Ypern kannte ich aus Jean Rouauds Buch „Die Felder der Ehre“, nicht aber aus den Erzählungen meines Großvaters und, unter uns, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die beste Zuhörerin für seine Berichte war.
Es ist inzwischen ja ein bekanntes Phänomen, dass Menschen ihre Erinnerungen mit denen anderer vermengen, mit fiktiven wie realen. Ich kann meiner Mutter schlecht das Wissen über ihren eigenen Vater in Abrede stellen. Tschechische Gefangenschaft, ja, englische Gefangenschaft, ja, aber: Mein Opa ist niemals in Ypern gewesen.
So oder so, er konnte, so hatte ich es immer empfunden, ausgezeichnet riechen, genau wie ich, genau wie meine Mutter, quälend genau riechen wir, sind auch schnell gereizt von unangenehmen Gerüchen, überempfindlich, wie meine Mutter das nennt, wenn meine Wahrnehmung krasser ist als ihre und mir noch dazu das Leben schwer macht. Aber er hat doch gekocht!, sagte ich. Er hat es mit dem Geschmack gemacht, sagte meine Mutter, die Zunge hat es ausgeglichen. Nein, nein, das konnte nicht sein, ich hatte den Geruchssinn doch von ihm geerbt, dieses Nasentier-zu- Sein. Na gut, vielleicht hatte ich ihn diesen Sinn von ihm, auch wenn er irgendwann bei ihm zerstört worden war.
Opa roch gut, ich rieche mehr als mir lieb ist, und das merkt man ja hier, wohin das führt, das Zu-viel-Riechen, man kommt vom Stöckchen aufs Steinchen, und von den Kohlen im Oderbruch zu Opas großem Taschentuch.
Tanja Langer, für Ina Abuschenko-Matwejewa