J´irai au paradis - Ausstellung

J´irai au paradis - Ausstellung

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Ausgangsüberlegungen zu Migration, Erinnerung und Paradies

214 Millionen Menschen sind heute auf der Welt unterwegs, sie fliehen vor widrigen Umständen, in der Hoffnung auf etwas, das dem Paradies zumindest ein wenig entspricht, und wenn es „nur“ in der Abwesenheit von Krieg, Tod und Zerstörung besteht. Sie lassen mit ihrer Heimat auch Erinnerungen zurück - oder sie klammern sich daran.

Auch Gedanken wandern. In den Sätzen und Wörtern sind Erfahrungen gespeichert wie in den Bildern, Installationen, Skulpturen. Der Philosoph Marc Augé bemerkt dazu, dass wir nie genau wissen können, ob und wie wir die in den Wörtern (in unserem Fall Bildern) gespeicherten Gedanken erfassen können, gerade auch dann, wenn sie uns faszinieren. Aber, so schreibt er: „Wir sollten keine Angst davor (den Wörtern/ ihnen) haben - unsere Gedanken müssen in Rage versetzt werden und die der Anderen können uns dabei helfen.“

Träume spielen eine große Rolle; ob und wie wir uns an die Träume der Nächte erinnern, und wie sie unsere Tag-Träume von der Zukunft bestimmen: J´irai au paradis - was ist dieses Paradies in unseren Träumen, und wie sieht das unserer Zukunftsträume aus? Wohin wollen wir gehen? Und was nimmt jemand mit, in einem Beutel, wie auf dem kleinen Bild von Dalva Duarte neben dem Eingang des VBK?

In den Städten bilden die neu Angekommenen eigene Wege; ob vietnamesischer Handel oder nigerianische Putztrupps - eines Tages wird man diese Wege als selbstverständlichen Bestandteil der Stadt wahrnehmen, so wie neu entstehende Viertel. Diese Spurungen lassen sich als ein Gedächtnis des Ankommens lesen. Aber ist es ein Ankommen im Paradies?

Traumatisierungen sind oft mit einem Gedächtnisverlust verbunden, einem Ausblenden, man konzentriert sich auf das Vorwärts, die Zukunft, das „Paradies“.  Doch wenn die Erinnerungen wiederkehren: woran erinnert sich jemand genau, und woran verschwommen? Welche Bedeutung hat es, sich mit anderen darüber auszutauschen? Ist es dann leichter?

In allen Büchern, die ich schreibe, sagt die französische Schriftstellerin Marie-Hélène Lafons, „werden Land und Landschaften mit Tieren garniert“, in ihren Texten findet sie die Flüsse, Wege und Steine ihrer Kindheit wieder. Schreiben und aufbrechen, sagt sie, sind der gleiche Impuls. Künstler erinnern sich - woran? Sie werden nicht umsonst als Paradiesvögel bezeichnet; Jean Cocteaus Film „Les enfants du paradis“ erzählt von ihnen: denn im Theater heißen die billigsten Plätze, ganz oben im Rang: Paradies.

Dalva Duarte kam in einem kleinen Ort im Nordosten Brasiliens auf die Welt. Sie entdeckte die Malerei, verdient sich eine Schiffspassage nach Europa und studierte dort Kunst. Sie machte eine internationale Karriere, die sie in die USA, nach England und Frankreich führte. Eine erfolgreiche Migration, sozusagen. Als sie, schon erfolgreich, in Fort Lauderdale lebte, fand sie in der ärmeren Nachbarschaft die Black und Latin Community und erarbeitete Porträts von Menschen, die sie an ihre Heimat erinnerten.  Wie generell in ihrem Werk, nutzte sie in ihren „Street Images“ formale Strukturen und Techniken der europäischen Meister, um damit eigene Themen zu setzen, wie eben die Einwanderer oder wie im zentralen Bild hier, „The Guardians“, zwei Wächter in einem Museum. Wem gehört diese Tradition? Weshalb schließt diese Tradition so oft Menschen anderer Hautfarbe aus? Sie zu malen ist und bleibt ein politisches Statement. 

Sabine Schneider geht einen anderen Weg. Ihre „Fiktiven Welten“, eine übermalte Landkarte, zeigen die Ströme der Völkerwanderungen auf und wie sich Grenzen durch sie verändern, so wie ihre „Fragmentierten Landschaften“, die dem Projekt „mapping“ folgten, die Neuverortung all der aufbrechenden Menschen und Bewegungen als eigenwillige Formen zeichnerisch festhalten. Auf ihrer Weltkarte findet sich auch der Nahe Osten, der nicht nur eine der krisengeschüttelten Regionen dieser Erde ist, sondern auch als kartografischer Ort des biblischen Paradieses angesehen wird: im Zweistromland, Mesopotamien, zwischen Eufrat und Tigris.

Paradies - Natur oder Kultur? Andrea Streit suchte im Selbstversuch einen Ort in der „Natur“, eine Brache in NRW, in der sie eine Woche lang ohne jede Mittel eine solche Ansiedlung als Fremde in der Fremde, einem Flüchtling gleich, im Selbstversuch ausprobierte. Ihre anspruchsvoll zersplitterte Landschaftsinstallation, die sie aus der Dokumentation dieses Versuchs entwickelt hat, stellt auch Gäste dieser Ausstellung, die sie fotografiert hat, mit hinein. Der (leicht brennbare) Styropor nimmt die Architektur des Raumes auf und stellt einen Bezug zur gegenüber liegenden Architektur der Nationalgalerie her, in dessen Richtung auch die Guardians blicken.

Ina Lindemann nimmt die Energien des Aufbruchs auf, die Verwirrung des Ankommens, und fragt, ob das Paradies als Synonym für die Hoffnung auf ein besseres Leben verstanden kann - in vielen Sprachen dieser Welt. In ihren aus Teppichen aller Art ausgeschnittenen Buchstaben wird der Wert, den wir mit dieser Hoffnung als Utopie verbinden,

 

so wie Peter Moellers großer, mit Fingerfarben in einer Performance während der Eröffnung gemalte Regenbogen. Als Untergrund benutzt er türkische Zeitungen, in denen das Wort „özgürlük“, Freiheit, zur Zeit eine eher schwierige Stellung einnimmt. Der kindliche Eigensinn in den mit den Händen aufgetragenen, „unvollkommenen“ Farbflächen gehört zum Paradies, in dem die widerständigen Kräfte der künstlerischen Arbeit ihr Reservoir findet.

Das Zuhause, das man verlassen hat, ist mit der Erinnerung verbunden.

Erinnerung ist ein anthropologisches Phänomen, sie ist ein zentrales Motiv der Literatur wie der Kunst; man könnte sagen, dass alle Kunst nicht nur eine Form der Reflektion ist, was Ina Lindemann in ihrer komplexen Arbeit auf Papier, „Der Weg“, auf abstrakte Weise formuliert hat, sondern auch des Gedächtnisses, daher unsere Museen, unsere Beschäftigung mit der Kunst vergangener Epochen. Im Geschichtenerzählen wie in der Kunst bewahren wir Erfahrungen auf und geben sie weiter, wir teilen sie, aber wir versichern uns auch unserer selbst.

Andrea Sunder-Plassmann thematisiert entsprechend die Unsicherheit oder auch Fremdheit, die wir uns selbst gegenüber empfinden können, in ihrem Selbstportrait „Larva“ in Langzeitbelichtung. Wird es später eine Erinnerung an die eigene Jugend sein? Oder ist es nur eine Maske, ein - Bild? (links)

David Dibiah, der mit dreißig Jahren aus Nigeria nach Berlin kam, greift Szenen seiner nigerianischen Kindheit auf, er koppelt sie mit Erlebnissen bei Besuchen in seinem Herkunftsland. In seiner vielteiligen, assoziativen Arbeit, „As Uncle Ngis says“, bringt er private Träume mit dem sozialen Gossip eines Dorfs zusammen, sowie (falsche) Träume von Europa mit einer emotionalen Wirklichkeit des Lebens, die zum einen eine tatsächlich erlebbare Fülle birgt, jeoch auch leicht zu einem überhöhten, klischeehaften Ideal einer starren Gesellschaft wird.

Mit POGOs Tiger nähern wir uns langsam dem Paradies: Blumen, Vögel, Tiere gehören immer dazu - aber wie verändern sich die Wege der Tiere, wenn sie gezwungen werden, neue zu suchen? Zu fliehen, zu wandern, weil sich die Bedingungen ihrer Umgebung drastisch ändern? Durch die Zerstörung ihrer Lebenwelt, klimatische Veränderungen? Folgen Sie den Fußspuren! Um es vorwegzunehmen: In POGOS und unserem Paradies - im letzten Raum - gibt es auch eine Utopie, wie sie zu allen Paradiesvorstellungen dazugehört: das kleine Nilpferd, das seine Eltern verloren hat, adoptiert eine Schildkröte als Mutter und umgekehrt. Eine wahre Geschichte, die POGO im Internet fand.

Peter Moeller assoziiert in seinen Arbeiten, die er „falscher Mond“, „falsche Sonne“ und „falscher Regenbogen“ nennt, zum einen, dass diese universalen Natur-Gebilde, die auf dem gesamten Globus zu sehen sind, für jeden einzelnen mit der einzigartigen Sonne seiner Heimat, dem ganz besonderen Mond seiner vertrauten Umgebung und den individuellen wie gesellschaftlich unterschiedlich bestimmten Ideen des Regenbogens - der Versöhnung - verbunden sind. Der Aufdruck falscher Versprechungen auf den Kinderhemdchen, die er in Discountern gefunden hat (vermutlich in Indien genäht), laden zu einer eigenen „Begehung“ dieser Zusammenhänge ein, die bis zu den gestrandeten oder ertrunkenen Flüchtlingen am Rande des Mittelmeers reichen, am Rande des Paradieses, das Europa heißt.

Der Text ist ein Auszug zum Text zur Ausstellung im VBK zu sehen bis zum 16.4.2017 http://www.vbk-art.de/index.php/de/

Das Foto oben hat Josefine Langer in Neukölln gemacht.