Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben

Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben

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Das Leben, das Erzählen, ein Ball, der ins Wasser rollt 

Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass ältere Menschen, die sich an ihr Leben erinnern, eine hohe Dichte von Ereignissen im Alter zwischen 18 und 26/27 Jahren vorfinden. Vermutlich, weil sie in dieser Zeit so vieles zum allerersten Mal getan oder erlebt haben, dass sie sich als neu und ungewöhnlich in ihrem Gedächtnis eingebrannt haben. Darüber schrieb auch kürzlich der niederländische Gedächtnisforscher Douwe Draaisma in seinem Buch "Halbe Wahrheiten - Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung" (Galiani Berlin, 2016), und Sylvie Schenks Roman "Schnell, dein Leben" scheint wie ein weiterer Beleg dieser These. 

Louise, gefühlt ungefähr so alt wie die französisch-deutsche Autorin selbst (Jahrgang 1944), spricht ihr jüngeres Ich Louise mit Du an, und zwar konsequent im gesamten Buch. Christa Wolf hat ein solches Du erfunden, in ihrem Roman "Kindheitsmuster", wobei sie es im Wechsel mit der 3. Person benutzte, um die Gebrochenheit der Figur deutlicher zu machen. Sylvie Schenks Figur Louise ist nicht so gebrochen wie Wolfs Nelly, auch wenn sie viele brüchige Dinge beobachtet und empfindet; sie setzt mit diesem Du vor allem den Abstand der Zeit zu ihrem jüngeren Ich, zugleich Intimität. Sie eröffnet einen Dialog mit sich selbst, erzählt in knappen, dichten Kapiteln. Wie "du", also Louise aufwächst, in einem kleinen Ort der französischen Alpen, in einer katholischen Familie, in den fünfziger Jahren, in denen es ein Privileg ist, ein Junge zu sein, und eine Frau wie ihre Mutter den Mann um das tägliche Haushaltsgeld bitten muss. "Sie ist eine Frau, die strickt." Im Erker am Fenster verbringt sie viel Zeit, Maschen bildend und träumend. Louise registriert nicht nur soziale Unterschiede, sondern sie hat ein Auge für Farben und Formen in der Natur. 

Die Nachkriegszeit öffnet sich, Louise kann nach Lyon gehen, um zu studieren. Sylvie Schenks Figuren gehören nicht unbedingt zu den aufrührerischen 68ern, eher zu denen, die am Rande mitlebten, und doch diese Zeit prägten, einige darunter versuchen, die Feindschaften ihrer Länder, mit Jazz, Lektüre und Neugier hinter sich zu lassen, während ein Junge, der Louise fasziniert, überall Spuren der deutschen Besatzung und der Kollaboration in Lyon festmacht. Henri, erbittert für sein Alter, hat Gründe: seine Eltern kamen im Konzentrationslager um. Er bringt Louise das Thema näher, und dann auch den Sex, in einem zentralen Kapitel mit dem schönen Titel "Die Nachhilfestunde". Darin unterrichtet Louise als angehende Lehrerin einen Schüler, der mit Aufsätzen nichts anfangen kann, und es wird eine wunderbare Anleitung zum Schreiben überhaupt: " Du bringst ihm bei, wie man Dingen und Menschen Aufmerksamkeit schenkt, was man über Farben, Geräusche, Bewegungen und Gesichter schreiben kann, du führst ihn ans Fenster und ermutigst ihn, den Wolken Tierformen anzudichten, du zeigst ihm, wie man kleine Dramen interessant schildern kann beziehungsweise erfinden darf (du bringst ihm Autofiktion bei, Erfindung und Lebensbericht in einem), der Ball fällt in den Fluss, seine kleine Schwester schreit, er will versuchen, ihn zu holen, seine Mutter hält ihn zurück, sein Zorn, da der schöne Ball jetzt fortgespült wird, und so weiter, du hilfst ihm, Bedeutungen aufzulauern (er findet eine selbst: Glück ist niemals perfekt), Gefühlen auf die Schliche zu kommen."

Das Stichwort ist gefallen, Autofiktion, und auch wenn es Louise ist, von der erzählt wird, und nicht Sylvie, so ist es doch eine Figur, die nach und nach den offenen Fragen und Unsicherheiten, denen sie begegnet, mit dem Schreiben antworten wird; der Roman gehört also auch in die Kategorie In-den-Geschichten-der-Kindheit-und Jugend-das- eigene-Schreiben-verdichten-Romane, wie "KIndheit" von Nathalie Sarraute oder "Der Liebhaber" von Marguerite Duras, deren Roman "Hiroshima, mon amour" auch prompt zwei Seiten weiter erwähnt wird. In diesem Sich-selber-Erfinden werden ganz nebenbei Motive versammelt, Lektüren, Eindrücke, Bewegungen, die mit dem Schreiben zu tun haben. Es sind besonders schöne Stellen in diesem Roman, und auch das Stricken und Träumen der Mutter erhält unter diesem Aspekt eine weitere Bedeutung.

"Das Gefühl, nicht wirklich zu existieren", lässt Louise, die Ältere, ihr jüngeres Pendant denken, "gründet vielleicht darin, dass du keine Geschichte hast, du hängst in der Luft wie eine erdlose Pflanze", und wenn es auch Menschen oder Romanfiguren geben mag, die mehr Gründe für dieses Gefühl haben, sind es hier doch genug, wie die Tatsache, dass Louises Mutter ein Adoptivkind ist, das kaum etwas über die eigenen Eltern weiß, und dass der Vater von seiner "bürgerlichen Familie" in Lyon recht abgeschnitten lebt. Doch vor allem ist es die besondere Wahrnehmungsfähigkeit von Louise, die vielleicht dieses Gefühl ausmacht, sie zum Leben in eine eigene Position bringt. Dazu kommt, dass sie sich gegen Henris eifersüchtige Einwände in den deutschen Austauschstudenten Johann verliebt, mit ihm nach Deutschland geht und dort ihre Identität in einem Halb-dazu-halb-fremd entdeckt.

Eine still-schöne Liebesgeschichte, das Leben nimmt seinen Lauf, Kinder kommen, die Ehe wird komplexer. Der Krieg hat Narben in den Familien hinterlassen hat, gegenüber denen die Jüngeren ein eigenes Leben zu setzen versuchen. Louise erinnert sich, und zeichnet in der Erinnerung zugleich auf, wie alle sind, wie sie älter werden, sonderbarer auch: "Dann wird wieder geschwiegen. Manchmal spricht Mutti einen fremden Namen vor sich hin, als träume sie laut, als wäre dieser erträumte Name so mächtig, dass er ihr unwillkürlich und wie in Trance über die Lippen rutscht." 

Fragen drängen immer heftiger an die Oberfläche, nach den Dingen des Lebens, den Entscheidungen, die getroffen werden, der Vergangenheit, und immer atemloser wird erzählt. Auch wenn ich eine der Auflösungen des Buchs, die Henris Abneigung gegen Johann erklären wird, etwas überkonstruiert finde, deckt Sylvie Schenk auch darin unauflösbare Verstrickungen auf, die es in dieser komplizierten Zeit von Schuld, Nichtwissenwollen und Nichtanderskönnen gab. Es ist die Atmosphäre, die sie von diesen Nachkriegsjahren zeichnet, wie ihre Beobachtungen des Lebens, die immer wieder überraschend und berührend sind, machen die Dichte dieses Romans aus.

Ein schönes, eigenes, ein wichtiges Buch.

159 Seiten, Hanser Verlag, 2016