Unvertraute Erinnerungen
bildet eine Summe der Arbeiten der letzten Jahre ab, in denen sich die bildende Künstlerin Dietlind Horstmann-Köpper mit Erinnerungen an ihre Familie auseinandersetzte. Das Buch erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Heimatmuseum Scheeßel in Norddeutschland, die vom 9. April bis zum 15. Mai 2022 stattfand.
Tiere, Landschaften, Porträts von Kindern wie Erwachsenen zeigen die Vielfalt der Künstlerin. Sie sah sich in ihrer Umgebung genau um - und fand darin Motive, die weit über ihre Umgebung hinausweisen. Ausgehend von Fotografien, die sie auf eigene Weise interpretierte, emotional aushorchte und dynamisierte, erfand sie das Personal ihrer Familie, "aus dem Familienalbum" neu. Über diese Prozesse reflektiert der Kunsthistoriker und Kurator Wolfgang Siano, der Dietlind Horstmann-Köpper seit vielen Jahren begleitet, in seinem Essay "Unvertraute Erinnerungen".
Der so begonnene offene Zyklus "Vie de famille / Familienleben", französisch betitelt, weil die Arbeiten auch in Lyon und Chambéry gezeigt wurden, erweiterte sich, als die Künstlerin mit der Schriftstellerin Tanja Langer in einen Dialog über die Jahre der britischen Besatzung in Norddeutschland trat.
Im Dialog
Was uns vertraut scheint, birgt oft die größten Geheimnisse. Wenn es uns gelingt, den Blickwinkel zu ändern, erleben wir, wie Erinnerungen vielleicht sogar unvertraut werden müssen, um sie wirklich zu erschließen. (T. Langer)
Das Personal des Romans "Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday oder Die Erfindung der Erinnerung" (mdv, 2019) verschränkt sich mit dem von Dietlind Horstmann-Köppers gemalten Familienalbum auf überraschende Weise. Motive öffnen sich, Ornamentik, Muster von Stoffen als Reservoir des Erinnerns, die Lust am Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, über die Tanja Langer in ihrem begleitenden Essay "Kintopp und Tanz" schreibt. Wolfgang Siano reflektiert das verhältnis von Fotografie und Malerei.
Reflektionen der eigenen Erinnerung
Liebe und Erinnerung brauchen oft Jahre,
um sich zu entfalten; ein Krieg fegt sie in Sekunden weg. (T.Langer)
Was löst Erinnerungen aus? Ein Stoff, eine Geste, ein Blick?
Im Mittelpunkt des Buchs stehen Bilder
Tiere, die das Leben begleiten, die "gegessen" werden, in deren Augen sich die Malerin jedoch auch spoiegelt, in ihrer naturhaften Eigen-Präsenz. Menschen, die zärtlich, doch zugleich in ihrer verstörenden Ambivalenz dargestellt werden. Landschaften, in denen sie zu verorten sind, rhythmisieren die Abfolge der Bilder, unterbrochen von Fotografien.
Doch über die einzelnen Motive hinaus thematisiert das ungewöhnliche Buchprojekt:
Erinnern als Teil des (un)bewussten Malakts transparent und die Unterschiede eines sprachlichen wie vor- und außersprachlichen Zugangs anschaulich zu machen. Dies ist eine Strategie des Buchs, das daher dem heutigen Verständnis kreativer Prozesse entspricht. Ebenso das "kollektive" Arbeiten, das Gespräch, das ermöglicht, Differenzen zu positionieren, genauer zu artikulieren, aber auch zu Resultaten führt, die allein nicht möglich wären.
Poesie und sachkundige Essays
sowie verdichtete Selbstaussagen der Künstlerin und Auszüge aus dem Roman bilden einen grenzüberschreitenden Weg, sich mit der eigenen wie durch die anderen bewegten Erinnerung zu befassen.
Die Dichterin und Psychologin Annette Rümmele etwa wirft in ihrem Text einen Blick auf das Bild "Großmutter mit Enkeln" und bietet einen ganz eigenen Ansatz, das Bild zu betrachten.
Das Buch bietet so den Leser:innen zahlreiche Anknüpfungspunkte, an die sie anschließen und eigene Fragen aufwerfen können.
Dietlind Horstmann-Köpper
1947 in Schneverdingen geboren, wo sie heute wieder lebt, studierte Malerei u.a. in Hamburg, unterrichtete und stellte in Frankreich, Deutschland, Estland, Italien und Polen aus, dort mit Auszeichnung auf der Biennale in Gdingen. Sie kuratiert den Kunstraum in der Kulturstellmacherei in Schneverdingen. Ihr Werk, das Plastik, Malerei und Zeichnung umfasst, untersucht die Wahrnehmung des Körpers auf der sinnlichen wie seelischen Ebene; sie untersucht ihre Wirklichkeiten, ob von Menschen oder Tieren, ihre Verletzlichkeit wie ihre Vitalität. Ihren offenen Zyklus Vie de Famille / Familienleben zeigte sie u.a. in Chambéry und Lyon.
Im Rahmen von 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland präsentierten Dietlind Horstmann- Köpper und Tanja Langer 2020/21 ihre gemeinsamen Porträt-Projekte "Czernowitzer Köpfe" und "Tolle Frauen!" u.a. in Osnabrück, Ronnenberg, Schneverdingen, 2022 in Meiningen.