Die Komponistin Susanne Stelzenbach http://www.susanne-stelzenbach.de leitet seit mehreren Jahren das Festival für Neue Musik "pyramidale" http://www.pyramidale-berlin.de/festival-fur-neue-musik-und-interdisziplinare-kunstaktionen/programm.html. Zum zweiten Mal ist das Thema "kultivieren - verwildern".
Bei einem der Konzerte des Festivals ist sie selbst auch als Komponistin dabei. Sie gab das Thema des Festivals durch: "Natur - Mensch - Kultur/Musik".
Im Gespräch kreisten wir dann die Frage ein, wie sich unser Bedürfnis, uns in der Natur auszuruhen, einen Garten zu haben - "Idylle" - zu unserem Wissen dass wir in einer Welt leben, deren Naturhaftigkeit immer fragiler, weniger fassbar wird - nirgends mehr vom Menschen unberührt, weshalb man mittlerweile auch vom "Anthropozän" spricht.
Da ich eine große Schwäche für Ziegen habe, schlug ich Susanne Stelzenbach vor, die "Kleine Arie der Ziege auf die Freiheit" zu schreiben, für ein etwa fünfzehnminütiges Stück.
Festgelegt waren: eine Sängerin: Ramina Abdulla-zadé, ein Sprecher: Martin Lau und das Ensemble Mosaik.
Kleine Ziege von Dietlind Horstmann-Köpper
Die Grundidee ist inspiriert von der Erzählung "Die Ziege des Monsieur Seguin" von Alphonse Daudet (1840-1897) https://de.wikipedia.org/wiki/Alphonse_Daudet. Aus dem freundlichen Bauern der französischen Erzählung machte ich einen störrischen, wenig pragmatischen Gelehrten, der aufregenden Situation mit einer Art Logorrhoe (heftiger Ausstoß von Worten) begegnet.
Angesichts der weltweiten Endzeitstimmung nach der Wirtschaftskrise möchte er sich unabhängig machen und in seinem Garten nicht nur Gemüse anbauen, sondern auch - eine Ziege halten. Eine Ziege ernährt einen Mann ein ganzes Jahr!, denkt er sich.
Womit er nicht gerechnet hat: er verliebt sich in das reizende Wesen, in dem er doch eigentlich nur ein Nutztier gesehen hat ... Die kleine Ziege aber träumt von der Freiheit; sie will in die Berge, sie will herumspringen und nicht am Strick angebunden sein.
Ziege, Dietlind Horstmann-Köpper
Die spielerische Grundhandlung wird durchsetzt von Monsieurs Wortkaskaden, mit denen er die schöne wie bedrohte Natur benennt: Blumenarten, Baumarten, Informationen über Ziegen, teilweise vom Ensemble als "Chor" begleitet, in mehreren Sprachen. "Die Ziege an sich ist international". Als die Ziege türmen will, redet er davon, dass der Wald nun auch nicht mehr ist, was er einmal war, dass der saure Regen die Tannen traurig aussehen lässt...
Dann schleicht sich über die Freiheit
die auf Russisch, Türkisch, Arabisch, Englisch etc. aufgerufen wird, ein anderer Tenor ein: die Freiheit, die die Ziege für sich reklamiert wie ein Menschenrecht, ist in Ländern, in denen diese Sprachen gesprochen werden, bedroht. Ausreiseverbote, Verbote, sich zu äußern, der geistige "Strick" sind ein akutes Thema in der ganzen Welt. Als ich das Stück im Februar schrieb, widmete ich es allen JournalistInnen und SchriftstellerInnen, die auf der ganzen Welt inhaftiert sind, vor allem die in der Türkei.
Wenn also die Ziege ihre "kleine" Arie auf die Freiheit singt, steht damit mehr auf dem Spiel als das muntere Springen in den Wald, wo die Lebensgefahr in Gestalt des Wolfs lauert.
Der kurze Text für das Musiktheater, der die Vorgabe hatte, Sprecher und Sängerin aufeinanderprallen zu lassen, spielt mit ihren unterschiedlichen emotionalen und intellektuellen Ausdrucksweisen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem "ökologischen Fußabdruck", den jeder einzelne Mensch auf der Erde hinterlässt (das Konzept des "langen Augenblicks, der jetzt beginnt"), wird durch die Übertreibung, in die "Monsieur" in seiner Aufregung gerät, zwar ironisiert, doch mehr, um die manchmal etwas absurde persönliche Besetzung dieser Themen zu umreißen.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass Susanne Stelzenbach diesen Text komponiert; ich mag ihre fragende, hintergründige Art, ihre aufgerauhte, aufbrechende musikalische Sprache, ihren Witz, der jedoch auch immer einen "melodischen" Ernst bereithält.
Auch dass Ramina Abdullah-zadé, die beim Ovartaciprojekt mitwirkt, die junge Ziege singt.
Ramina Abdullah-zadé beim Ziegenüben
Bei der Uraufführung am 29.9.2017 in Berlin-Hellersdorf interpretierten das Stück:
Ramina Abdulla-zadè Sopran
Mariel Jana Supka Sprecherin
Martin Lau Sprecher
ENSEMBLE MOSAIK
Bettina Junge Flöte Simon Strasser Oboe Christian Vogel Klarinette
Martin Losert Saxophon Ernst Surberg Keyboard Roland Neffe Schlagzeug Chatschatur Kanajan Violine Karen Lorenz Viola Mathis Mayr Cello
Arne Vierck, Richard Lucchesi Bild- und Klangregie