Cap Esterel - Kritiken


Besprechung in der Literarischen WELT vom 13.02.1999

Das Herz ist ein schwaches Tier
Was kann man festhalten: Tanja Langer konstruiert ein soghaftes Debüt

Von Martin Ebel

Diese Rezension hat erst einmal einige Dinge zu erklären. Die Lektüre von Tanja Langers "Cap Esterel" gleicht nämlich anfangs einem Suchspiel, versucht dann, ein Rätsel zu lösen, und entläßt den Leser mit Fragen, die er selbst beantworten muß. 

Nicht gerade wenig für einen Romanerstling. Das Suchspiel heißt: "Guck mal, wer da spricht!" Nach einer gewissen Zeit hat man es heraus: Es sind drei Figuren, zwei Frauen und ein Mann; sie sprechen abwechselnd, die Frauen in der Ich-Form, der Mann wird in erlebter Rede vorgestellt. Die Auftritte der Sprecher wechseln in schneller Folge, mal nach einigen Seiten, mal schon nach wenigen Zeilen. 

Auch das Verhältnis der Personen klärt sich allmählich: Michel, ein junger Architekt, hatte vor einigen Jahren ein Verhältnis mit der Fotografin Elisabeth; jetzt ist er nach Saint-Raphael gefahren, in jene Pension, in der er als Kind mit seinen Eltern Ferien verbracht hat. In dieser Pension, etwa 25 Jahre zuvor, schreibt Michels Mutter fiktive Briefe; an eine Freundin, an einen Algerienfranzosen, in den sie sich verliebt hat. Zu den drei Protagonisten kommen also drei Zeitebenen. 

Michels Fahrt an die südfranzösische Küste dient zwei Zielen: Er will nachdenken über seine Beziehung zu Frauen, und er will an ein schreckliches Erlebnis rühren, das er als Kind hier hatte. Worin es besteht, stellt das Rätsel dar (und wird hier natürlich nicht verraten). 

Tanja Langer läßt es so lange im unklaren, daß sie mit der endlichen Auflösung lange Gesichter bei den Lesern riskiert. Allerdings löst die Lösung nichts, sondern nur neue Fragen aus. Tanja Langer zieht ihre Leser mit sich, immer weiter, immer tiefer hinein in den Text.

Warum hat es nicht "geklappt" zwischen der sinnlichen Elisabeth und dem so "verdammt hübschen" Michel? Warum entzog er sich, trotz seiner Begierde, reiste überstürzt ab? Hatte er Hemmungen, weil er noch mit Judith zusammenlebte, in einer "stabilen Beziehung" - etwas routiniert, aber auch das verbindet ja? Liegen die Gründe tiefer?

Bald aber fesseln uns grundlegendere Fragen: Was verbindet, was trennt Menschen? Wie treffen sie ihre Entscheidungen? Was können sie festhalten, was geht verloren? Es ist kein Zufall, daß Elisabeth fotografiert (und sich mit Sätzen Richard Avedons auseinandersetzt) und Michel Häuser baut.

Beide versuchen also dem permanenten Verfall etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen, die Flüchtigkeit der Existenz aufzuhalten; ein Bollwerk gegen den Tod zu stellen. Und doch hat, was sie beruflich treiben, nämlich Fixierung, etwas von diesem Tod in sich, indem es Veränderung ausschließt: "Indem man das Leben in einem Foto anhält, schafft man eine Art Tod, aber gleichzeitig Unsterblichkeit." Diese unentrinnbare Dialektik vermittelt der kluge Text ganz unaufdringlich.

"Cap Esterel" nimmt diese Dialektik in die Konstruktion selbst hinein; für ein Debüt eine erstaunliche formale Leistung. So impressionistisch nämlich die einzelnen Episoden gehalten sind, so sehr sie auf die Spontaneität, die Oberflächlichkeit von Sinneseindrücken bauen, so strikt komponiert ist das Ganze, genau berechnet wie das Stahlgerippe eines Hochhausbaus, dessen später verkleidete, das wimmelnde Leben spiegelnde Fassade den Betrachter schwindeln machen kann: 

Und so ist der "Bauplan": 77 Abschnitte enthält das Buch, 37 "gehören" der Hauptfigur Michel, exakt genausoviel den beiden Frauen zusammen; die restlichen drei bilden Zitate, solitäre Sätze, die den "Stand der Dinge" literarisch kommentieren und den rhythmischen Wechsel der Sprecher zudem auflockern. Überdies gibt es noch etliche Querverbindungen und -verstrebungen, wenn es etwa am Anfang stolz heißt "Das Herz ist ein starker Muskel" und am Ende kleinlaut "Das Herz ist ein schwaches Tierchen". Das Kalkül geht auf: Dieser Gegensatz von flirrender Unklarheit im Innern und fast mathematisch präzis entworfener Struktur verstärkt den Sog, der den Leser von außen nach innen zieht.

Lesen läßt sich Tanja Langers Debüt ganz unangestrengt, und die Autorin erniedrigt den Leser auch nicht zur Filmkamera oder einem anderen technischen Gerät. Er darf bleiben, was gute Literatur braucht: lebendig und aktiv.

Denn am Ende weiß er zwar, was Michel damals am Strand von Saint-Raphael passiert ist, und Michel seinerseits hat "die schlecht verheilte Wunde aufgerissen, damit sie richtig heilen kann", aber was weiter? Der Blick zurück muß wieder zu einem Blick nach vorn werden. "Zuviel Erinnerung versperrt den Weg ins Leben", hat er immerhin gelernt. Jede Antwort ist nur ein Sprungbrett zu neuen Fragen.

Ein respektheischender Erstlingsroman der 36jährigen Berlinerin also, bei dem nur ein paar sprachliche Details stören, ein paar mißglückte Bilder ("Erfahrungen fielen auf dem Aktienmarkt unter Null") oder gesuchte Vergleiche. Gravierend ist das alles nicht. Und daß das titelgebende "Cap Esterel" auch auf einer genauen Landkarte der Côte d'Azur nicht zu finden ist: Das könnte der Auftakt zu einem neuen Suchspiel sein.

Martin Ebel ist freier Literaturjournalist und lebt in Freiburg.


Besprechung im SPIEGEL vom 15.02.1999


Im Licht der blauen Küste 

Michel heißt der attraktive Architekt aus München, der allein an die Côte d'Azur aufbricht, um dort einem Trauma aus Kindheitstagen nachzuforschen. Vor ein paar Jahren hatte sich die junge Elisabeth in den wandlungsfähigunnahbaren Kerl verliebt. Doch Michel war ihr entwischt, nachdem sie ihn, zu ihrer eigenen Überraschung, in die Liebe hatte einführen müssen. Woher rührt seine offenkundige Verstörung?

Die in Berlin lebende Journalistin Tanja Langer, 36, begleitet den geheimnisvollen Helden in ihrem literarischen Debüt "Cap Esterel" auf seiner Reise in die Vergangenheit: erzähltechnisch ganz konventionell in der dritten Person, unterbrochen freilich immer wieder von zwei weiblichen Ich-Stimmen, deren Monologe sich zu einer Klage über eine uneinlösbare große Liebe zu ergänzen scheinen. Tatsächlich trennt die beiden Frauen ein Vierteljahrhundert. Da ist Elisabeth heute, die über den Verlust des 30jährigen Michel trauert; da ist die Mutter des 5jährigen Michel 1972, die sich auf eine leidenschaftliche Begegnung einläßt mit dem Kioskbetreiber an jenem Strand der Côte d'Azur, wo der Sohn jetzt recherchiert.

Virtuos spielt die Autorin mit dem Puzzle aus verschiedenen Zeiten und Sprechweisen; erst auf den letzten Seiten fügen sich die Andeutungen zu einem Bild zusammen. Hier und da neigt die Autorin zu überflüssigen Kommentaren ("Michel hatte seine Strategien im Laufe der Zeit perfektioniert"), und ein Roman ist das Buch nicht schon deswegen, weil der Verlag das in kühner Verkaufsstrategie behauptet ­ eine mehr als nur talentierte Erzählung aber ist es durchaus. Und die hat noch einen großen Vorteil: Sie ist spannend. 

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Besprechung in der ZEIT vom 25.03.1999

Des Meeres und der Liebe Wellen 
Tanja Langer legt eine Talentprobe vor 
 

Dies ist auf den ersten Blick ein Buch, wie ich es eigentlich nicht mag: locker, flockig und ein bißchen frivol wie die Romane der Colette oder Bonjour tristesse von Françoise Sagan. Aber die tänzelnde Leichtigkeit und gespielte Harmlosigkeit dieses Debütromans täuscht, denn unter der pastosen Oberfläche eines südfranzösischen Ferienidylls tun sich Abgründe auf - nicht die Gorges du Verdon oder andere Schluchten, sondern der Grand Canyon des eigenen Ichs, das wie jede Kindheitserinnerung dunkle Geheimnisse birgt. 

Ein junger Mann namens Michel flieht vor einer gescheiterten oder unbefriedigenden Liebesbeziehung an die Côte d'Azur und mietet dasselbe Appartement am Meer, wo er vor 25 Jahren mit seinen Eltern die Sommerferien verbracht hat. Damit ist der äußere Rahmen des Geschehens skizziert, das bis zu seiner Auflösung kurz vor Schluß im unklaren verbleibt, weshalb der Versuch, die nur indirekt erschließbare Handlung nachzuerzählen, scheitern muß; jede Kritik müßte sich dabei in den Fallstricken verheddern, die die Autorin trickreich ausgelegt hat. Der Roman ist auf mehrere Stimmen verteilt (ich habe sie nicht genau gezählt), von denen eine männlich, die anderen aber weiblich sind. Es ist nicht immer klar, zu welcher Romanfigur welche Stimme gehört. Sie durchkreuzen, überschneiden und überlagern einander, so daß ein polyphones Stimmengewirr entsteht, das manchmal wie ein Hörspiel klingt und daran erinnert, daß Tanja Langer Dramen und Hörspiele verfaßt hat, bevor sie den vorliegenden Roman schrieb. 

Ist es überhaupt ein Roman? Das ist ebenso schwer zu beantworten wie die nicht weniger müßige Frage, wer oder was sich hinter der erzählten Geschichte "wirklich" verbirgt? Eins ist klar: Es handelt sich um Fiktion, und wichtiger als gattungstheoretische Haarspaltereien darüber, ob es sich um einen Roman oder "nur" um eine Novelle handelt, ist mir, daß das Buch verdammt gut geschrieben ist. Tanja Langer hat mehr als nur eine vielversprechende Talentprobe vorgelegt. Was besonders besticht, ist die sinnliche Direktheit dieser Prosa, die nirgendwo gewollt oder aufgesetzt wirkt. Selten habe ich Farbigkeit, Duft und Licht der französischen Mittelmeerküste genauer und unaufdringlicher beschrieben gefunden. Trotzdem ist Cap Esterel kein Baedeker für Boulespieler, Pastistrinker und andere Formen der Frankophilie. Ähnlich wie in Grillparzers Drama Des Meeres und der Liebe Wellen, das als literarisches Leitfossil den Roman durchzieht, werden Tiefen und Untiefen einer Kindheit ausgelotet, die, nur scheinbar unbeschwert, wie die Liebe von Hero und Leander tragisch ausgeht. Das Beziehungsgeflecht wird von seinem tödlichen Ende her aufgerollt und mit Hilfe von Augenzeugen, die mehr wissen, als sie zugeben, Stück für Stück rekonstruiert, bis der Schlußstein ins Puzzle paßt. Aber obwohl sie kriminalistische Neugier erzeugt mit Nebenfiguren wie Eisverkäufer und Zimmerwirtin, die an Tatverdächtige in Agatha-Christie-Romanen erinnern, hat Tanja Langer keinen Krimi geschrieben. Die Autorin wollte weniger und mehr zugleich. Es geht ums verlorene Paradies der Kindheit, um die Melancholie des Erwachsenwerdens und das Streben nach individuellem Glück. Nur ein Einwand ließe sich formulieren: Abgesehen von Hinweisen auf den Algerienkrieg, spielt das Buch in einem historisch leeren Raum. Die Hinwendung zum Individuum, die neben Tanja Langer eine Pléiade jüngerer Autoren vollzieht, wird mit weitgehendem Verzicht auf Geschichte, Politik und Gesellschaft erkauft. 

Tanja Langer: Cap Esterel Roman; Verlag Volk und Welt, Berlin 1999; 140 S., 28,- DM

Autor(en): Buch, Hans-Christoph 

Besprechung in der Berliner Morgenpost vom 01.08.1999

Belletristik: Leben mit Hindernissen

Das Cap Esterel zu passieren, galt jahrhundertelang als lebensgefährliches Unternehmen, denn der einzige Handelsweg nach Italien war von Straßenräubern belagert. Zwar sind jene Zeiten vorbei, doch auch den jungen Architekten Michel scheint ein dunkles Geheimnis zu umgeben. Was führt ihn in diese Gegend? Warum versucht er mit kriminalistischem Eifer die Sommerpension seiner Eltern an der Côte d'Azur zu finden, die sie vor 20 Jahren für immer verlassen hatten?

In Berlin trauert die Fotografin Elisabeth um den Verlust von Michel, mit dem sie eine rauschhafte Zeit erlebt hatte, obwohl diese Liebe unter schlechten Vorzeichen stand. Ein Leben voller Hindernisse scheint auch Michels Mutter gehabt zu haben. Ihre fiktiven Briefe an eine Freundin erzählen von einer verzweifelten und leidenschaftlichen Begegnung in jenem Ferienort an der Côte d'Azur, wo ihr Sohn Michel jetzt auf Spurensuche ist.

Tanja Langer läßt drei Ich-Erzähler durch ihren Debütroman führen, der spannend und farbig erzählt ist. Mit einer überraschenden Auflösung gelingt es ihr schließlich, alle Fäden in jenem mysteriösen Ort am Cap Esterel zusammenlaufen zu lassen. Eine unterhaltsame Lektüre.

Heidemarie Retzlaff Tanja Langer: «Cap Esterel». Roman. Verlag Volk & Welt, Berlin 1999. 138 S., 28 Mark.

sonntagszeitung.ch vom 30.5.1999

Virtuoses Puzzle

Michel ist ein erfolgreicher Architekt, stammt aus München und reist allein an die Côte d’Azur, um dort einem Trauma aus Kindheitstagen nachzuforschen. Tanja Langer begleitet in ihrem Erstling den geheimnisvollen Helden auf seiner Reise in die Vergangenheit. Erzählt wird ganz konventionell in der dritten Person, unterbrochen freilich immer wieder von zwei weiblichen Ich-Stimmen, deren Monologe sich zu einer Klage über eine uneinlösbare grosse Liebe zu ergänzen scheinen. «Cap Esterel» ist letztlich ein virtuoses Puzzle aus verschiedenen Zeiten und Sprechweisen. Vieles bleibt dabei vage. Erst auf den letzten Seiten erfahren wir, worin das Kindheitstrauma besteht. Tanja Langer, die sich unnötigerweise immer wieder zu kommentierenden Einschüben verpflichtet fühlt, beweist mit ihrem Erstling, dass sie nicht nur erzählen, sondern auch unterhalten kann. 

Tagesanzeiger vom 15.07.1999

Fotograf am Mittelmeer 

Tanja Langer gehört zu dem vom "Spiegel" proklamierten "deutschen Fräuleinwunder". Dabei ist die 37-jährige Berlinerin weder Fräulein, noch ist ihr Prosadebüt ein literarisches Wunder. "Passer le pas de L'Esterel" heisst auf Deutsch so viel wie eine beschwerliche Reise tun. In diesem Falle führt sie einen Münchner Architekten aus dem kalten Norden an die Côte d'Azur und weiter in die eigene Vergangenheit. Der deutsch-französische Michel ist nämlich so unglücklich verliebt wie seine Mutter fünfundzwanzig Jahre vorher. Die Thalasso-Regressionstherapie im Paradies der Schönen und Reichen schlägt an: Gleich nachdem er sich zum ersten Mal seit seinem Kindheitstrauma wieder ins Meer wagt, kann er sich endlich auch erotisch freischwimmen. Tanja Langer entwickelt nach einem Motto von Richard Avedon - "Ich wusste, dass alle Bilder, die mir entgingen, für immer verloren waren" - aus dem doppelt und "überbelichteten Film" in Michels Kopf 77 Schnappschüsse, Ferienpostkarten und impressionistische Kunstdrucke. Aber alle Flirts, Spaziergänge, Reflexionen und Museumsbesuche zwischen St-Raphael und St-Tropez ergeben doch nur das Poesiealbum eines beschwerlichen Sommerurlaubs. (hal) 

 

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